Acht Fragmente aus Briefen von Vincent van Gogh für Bariton und Streichquartett (op. 84, 1985)
I., II., III., IV., V., VI., VII., VIII.
Bariton, Streichquartett
Dauer: 19 Minuten
Martin Hummel | Seraphim-Quartett Stuttgart: Margret Hummel | Sonoko Imai | Florian Hummel | Matthias Neupert
Titel: 8 FRAGMENTE AUS BRIEFEN VON VINCENT VAN GOGH für Bariton und Streichquartett op. 84 - Umfang: 28 Seiten - Datierung: I. 28.4.85 II. 2.Mai 85 III. 3.Mai 85 IV. 19.Mai 85 V. Pfingsten 85 VI. 28.Mai 85 VII. 29. Mai 85 VIII. 30.Mai 85 - Aufbewahrungsort: Bayerische Staatsbibliothek, München
Schott Music ED 20241 / ISMN: M-001-14888-7
Erstausgabe: J. Schuberth & Co., Hamburg 1988
I.
Ich fühle eine Kraft in mir, ein Feuer, das ich nicht auslöschen darf, sondern schüren muss, obgleich ich nicht weiß, zu welchem Ende es mich führen wird und mich über ein düsteres nicht wundern würde.
an Theo van Gogh am 5. November 1882, Den Haag
II.
Draußen ist es traurig; die Felder eine Lehmgrube aus Klumpen von schwerer Erde und ein wenig Schnee; die Tage meistens mit Nebel und Schmutz; morgens und abends die rote Sonne, Krähen und verdorrtes Gras und verwelktes, faulendes Grün, schwarze Gebüsche und die Zweige der Pappeln und der Weiden scharf wie Draht gegen die traurige Luft.
an Theo van Gogh am 20. Januar 1885, Nuenen
III.
Menschen, die nicht an die Sonne glauben, sind fast wie Gottlose.
an Theo van Gogh am 11. August 1888, Arles
IV.
Oh, diese schöne Sonne hier mitten im Sommer. Das greift einem den Kopf an und ich zweifle gar nicht, dass man davon ganz närrisch wird. Da ich es aber schon vorher war, hab ich nur Genuss davon..."
an Emile Bernhard am 18. August 1888, Arles
V.
Bin ich auch oft in Aufruhr, so ist innen in mir dennoch eine ruhige und reine Harmonie und Musik.
an Theo van Gogh am 21. Juli 1882, Den Haag
VI.
Mancher hat ein großes Feuer in seiner Seele, doch niemand kommt jemals, sich daran zu wärmen; und die Vorübergehenden gewahren nur ein klein wenig Rauch oben über dem Schornstein und gehen ihres Weges von dannen.
an Theo van Gogh im Juli 1880, Borinage
VII.
Ein Mensch, der sich nicht klein fühlt, der nicht erfasst, dass er ein Stäubchen ist, wie irrt er sich im Grunde..."
an Theo van Gogh am 4. November 1883, Drenthe
VIII.
Ich sah in diesem Schnitter eine vage Figur, wie ein Teufel, der in der Gluthitze kämpft, um mit seiner Arbeit zu Ende zu kommen. Ich sehe darin das Bild des Todes, die Menschheit ist das Korn, das gemäht wird. Aber in diesem Tode liegt nichts Trauriges; es geschieht am hellen Tag mit einer Sonne, die alles mit Licht und überreichem Gold überstrahlt.
an Theo van Gogh am 4. oder 5. September 1889, Saint-Rémy
Deutsche Übersetzung aus dem Niederländischen und Französischen von Leo Klein-Diepold (1865-1944) und Carl Einstein (1885-1940) (Briefe an den Bruder Theo, Berlin 1914) sowie von Hans Graber (1886-1959) (Briefe an Emile Bernhard, Paul Gaugin, Paul Signac und andere, Basel 1938)
Mit den "Acht Fragmenten" ist Bertold Hummel in der Tat ein höchst eindrucksvolles Werk gelungen. Ungemein dicht im Atmosphärischen und textbezogen entfalten diese "dunkel grauen Lieder"- um Ludwig Hirsch zu zitieren - einen traurig-expressiven, fast somnambulen Reiz. Diese Lieder scheinen Bertold Hummels ganz nach innen gewandte "Winterreise" geworden zu sein, das Epigramm einer Psychose, voller versteckter Andeutungen und dunkler Ahnungen, aber auch immer voller Hoffnung. Die "Sonne" wird zum immerwieder beschworenen Hoffnungsträger. Die Musik ist hochexpressiv, nutzt die verschiedenen Spiel- und Stricharten der Streichinstrumente, ihre Nuancierungsmöglichkeiten, bis zur Neige aus, es entstehen teilweise beklemmende klangliche Visionen. Es ist eine gefährdete Musik von äußerst labilem Gleichgewicht. Auch subtile musikalische Andeutungen fehlen nicht. Mit nur einem Ton, der auf das Wort "Musik" folgt, wird Harmonie und Tonalität beschworen.
Reinhard Söll
Eine inbrünstig-durchglühte Vertonung, deren melodischer Duktus sich dem prosamäßig abgefaßten Text des Malers van Gogh anschmiegsam anvertraut und deren künstlerische Botschaft so recht dazu angetan war, einem aus persönlicher Anteilnahme und sachlichem Interesse herbeigeeilten Publikum als Credo vorgestellt zu werden.
Christoph Sökler hat - neben Gesängen von Barber und Respighi - von Bertold Hummel die "Acht Fragmente aus Briefen von Vincent van Gogh" in sein anspruchsvolles Programm in der Schlosskirche aufgenommen. Er singt diese Fragmente mit einer starken, auch innerlich starken und vom Timbre her feinkernig hellen Stimme völlig sicher innerhalb des mehr bedrängenden als stützenden Streichersatzes. Lotet heftige Intervallspannungen radikal aus. Erschüttert durch die Schärfe, die Dramatik, den Ernst seines Vortrags und durch die Wort-Nähe eines jeden Tons. Macht die Leidensgeschichte dieser Briefstellen in einem zerreißenden und dabei nie gewaltsamen Ausdruck spürbar und hat die Kraft und die Wärme, in dieser hochverdichteten Musik auch die malerische Sonne aufgehen und den Glanz der Stimme strömen zu lassen.
gemischte Besetzung Kammermusik für mehr als zwei Instrumente Opus-Werkverzeichnis Sologesang Vokalwerk Weltlich
Ein Hauptwerk Bertold Hummels sind die Acht Fragmente aus Briefen von Vincent van Gogh, für Bariton und Streichquartett gesetzt 1984. Es sind atmosphärisch dichte, dunkelgraue Lieder, über denen zuweilen die Sonne als dos Hoffnungssymbol van Goghs aufgeht. Man hat von Bertold Hummels "Winterreise" gesprochen, was gar nicht abwegig ist, denn auch hier ist alles nach Innen gekehrt, auch hier ergibt sich das Bild einer totalen Vereinsamung mit Zügen einer Psychose, auch hier werden beklemmende Klangvisionen heraufgeführt, zumal in dem mit allen Nuancierungsmöglichkeiten verfahrenden Streichersatz.
Die acht Briefstellen datieren aus den Jahren 1880 bis 1889, also aus der Zeit, als van Gogh erst den Weg eines Methodistenpredigers einschlug, dann schrittweise zu seiner eigentlichen Bestimmung fand. Die späten Briefe wurden in Arles geschrieben, wo er malte und das vielberedete gelbe Haus bewohnte.
Van Gogh ist nur selten mit der Musik in Verbindung gebracht worden. Umso aufregender ist es, wie sich seine höchst expressiven Briefe - durchaus Seitenstücke zu den Gemälden - in der Klangwelt eines übersensiblen Komponisten unserer Tage spiegeln.
Karl Schumann 1990
Vorwort (Schott Music)
„Mit den Acht Fragmenten ist Bertold Hummel in der Tat ein höchst eindrucksvolles Werk gelungen. Ungemein dicht im Atmosphärischen und textbezogen entfalten diese "dunkel grauen Lieder"- um Ludwig Hirsch zu zitieren - einen traurig-expressiven, fast somnambulen Reiz. Diese Lieder scheinen Bertold Hummels ganz nach innen gewandte Winterreise geworden zu sein, das Epigramm einer Psychose, voller versteckter Andeutungen und dunkler Ahnungen, aber auch immer voller Hoffnung. Die Sonne wird zum immer wieder beschworenen Hoffnungsträger. Die Musik ist hochexpressiv, nutzt die verschiedenen Spiel- und Stricharten der Streichinstrumente, ihre Nuancierungsmöglichkeiten, bis zur Neige aus, es entstehen teilweise beklemmende klangliche Visionen. Es ist eine gefährdete Musik von äußerst labilem Gleichgewicht. Auch subtile musikalische Andeutungen fehlen nicht. Mit nur einem Ton, der auf das Wort "Musik" folgt, wird Harmonie und Tonalität beschworen.“
Reinhard Söll