Visionen (nach der Apokalypse des Heiligen Johannes) für großes Orchester (op. 73, 1980)
I., II.
3.3.3.3 - 4.3.3.1 - Pk., Schlgz. <3 - 4>, Hrf., Streicher
Dauer: 22 Minuten
Berliner Philharmoniker | Aldo Ceccato
Kompositionsauftrag des 86. Deutschen Katholikentages
Louisianna Philharmonic Orchestra | Klauspeter Seibel
Queensland Symphony Orchestra | Werner Andreas Albert
Titel: I. - Umfang: 67 Seiten - Datierung: I. - II. 1. April 80 - Aufbewahrungsort: unbekannt
Schott Music
Texte aus der Apokalypse zu Bertold Hummel: "VISIONEN" op. 73
Für die Aufführung der Visionen hat es sich sehr bewährt, die bezugnehmenden Texte von einem Sprecher vortragen zu lassen.
Bertold Hummel
Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende, spricht Gott der Herr, der da ist und der da war und der da kommt, der Allmächtige. 1,8
Ich war im Geist und hörte hinter mir eine große Stimme wie einer Posaune. Und ich wandte mich um, zu sehen nach der Stimme, die mit mir redete. Und als ich mich wandte, sah ich 7 goldene Leuchter und mitten unter den 7 Leuchtern einen, der war eines Menschen Sohne gleich, der war angetan mit einem langen Gewand und begürtet um die Brust mit einem goldenen Gürtel. Sein Haupt aber war weiß wie weiße Wolle, wie der Schnee, und seine Augen wie eine Feuerflamme und seine Füße gleich wie Messing, das im Ofen glüht, und seine Stimme wie ein großes Wasserrauschen. Und er hatte sieben Sterne in seiner rechten Hand und aus seinem Munde ging ein scharfes, zweischneidiges Schwert und sein Angesicht leuchtete wie die helle Sonne. 1,10-16
Und ich sah, daß das Lamm der Siegel eines auftat; und ich hörte der vier Tiere eines sagen wie mit einer Donnerstimme: Komm! 6,1
Ich sah, und siehe, ein weißes Pferd. Und der darauf saß, hatte einen Bogen; und ihm ward gegeben eine Krone und er zog aus sieghaft, und daß er siegte. 6,2
Und es ging heraus ein anderes Pferd, das war rot. Und dem, der darauf saß, ward gegeben, den Frieden zu nehmen von der Erde und daß sie sich untereinander erwürgten; und ihm ward ein großes Schwert gegeben. 6,4
Und ich sah, und siehe, ein schwarzes Pferd. Und der darauf saß, hatte eine Waage in seiner Hand. 6,5
Und ich sah, und siehe, ein fahles Pferd. Und der darauf saß, des Name hieß Tod, und die Hölle folgte ihm nach. Und ihnen ward Macht gegeben, zu töten das vierte Teil auf der Erde mit dem Schwert und Hunger und mit dem Tod und durch die Tiere auf Erden. 6,8
Und ich sah unter dem Altar die Seelen derer, die erwürgt waren um des Wortes Gottes willen und um des Zeugnisses willen, das sie hatten. 6,9
Und ich sah, da ward ein großes Erdbeben, und die Sonne ward schwarz wie ein härener Sack und der Mond ward wie Blut, und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde. 6,12-13
Denn es ist gekommen der große Tag seines Zorns, und wer kann bestehen? 6,17
Und es kam zu mir einer von den sieben Engeln, welche die 7 Schalen voll der letzten 7 Plagen hatten. 21,9
Und er führte mich hin im Geist auf einen großen und hohen Berg und zeigte mir die große Stadt, das heilige Jerusalem, herniederfahren aus dem Himmel von Gott. Und ihr Licht war gleich dem alleredelsten Stein. 21,10-11
Und sie hatte eine große und hohe Mauer und hatte zwölf Tore. Vom Morgen drei Tore, von Mitternacht drei Tore, vom Mittag drei Tore, vom Abend drei Tore. 21,12-13
Und die 12 Tore waren 12 Perlen, und die Gassen der Stadt waren lauteres Gold wie ein durchscheinend Glas. 21,18
Und ich sah keinen Tempel darin; denn der Herr der allmächtige Gott ist ihr Tempel, und das Lamm. 21,22
Und die Stadt bedarf keiner Sonne noch des Mondes, daß sie ihr scheinen; denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie, und ihre Leuchte ist das Lamm. 21,23
Und ihre Tore werden nicht verschlossen des Tages; denn da wird keine Wacht sein. 21,25
Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende, der Erste und der Letzte. 22,13
Erinnert wurde auch an den Trost, an verheißene Freude und Herrlichkeit, die das Christentum dem memento mori entgegenstellt. Genau diese zwei Pole hat Bertold Hummel in seinen "Visionen" in Töne gefasst. Mit fanfarenhaftem Bläsereinsatz, aggressiven Repetitionen, hartem Schlagwerk und schroffer, gezackter Linie scheinen die apokalyptischen Visionen des Johannes auf, durchsetzt von stillen Momenten, gekrönt vom Glanz des himmlischen Jerusalem. Marcello Viotti und das Rundfunkorchester luden die ausdrucksstarken Klangfantasien intensiv auf.
Ganz auf phantasievolle Klangsinnlichkeit setzen die hier uraufgeführten zweisätzigen "Visionen für großes Orchester" nach der Johannesapokalypse von Bertold Hummel. Die zwölftontechnische Materialorganisation, die zugleich motivisch-thematisch gedacht ist, gibt dabei der Klangkomposition eine strukturelle, die Logik der Tonsprache verstärkende Fundierung. Die zahlenmystischen Spekulationen, die Hummel in den Kommentaren zu seinem Werk entwickelt, sind demgegenüber höchst zweitrangig, wenngleich für die ideologische Botschaft des Werks nicht unerheblich. Im Vordergrund stehen aber häufig statische Akkordschichtungen, ausgreifende Zwölftonkantilenen, Kontraste von Härte und Zartheit. Bei vorherrschendem Schönklang. Hummel verschmäht auch nicht Anklänge an die tonale Musiksprache, etwa in kadenzierenden Choralsätzen; ebensoweinig wie ilustrative Verfahren, so Blechbläserfanfaren, kleine Trommel, Pauke und Schellentamburin sowie Streichertremmoli zur Abbildung der apokalyptischen Reiter. Lebhafter Beifall und sogar ein Bravoruf.
Er artikuliert die apokalyptische Seite des Themas: ein brutaler Schnitt nach der Engelsmusik von Lasso. Denn Hummel transformiert die Johannes-Apokalypse zur Antizipation unserer aktuellen Schrecken. In zwei Sätzen, eigentlich zwei verschiedenen Erregungszuständen (Reinhard Schulz) fesselten die Idiome der Orchesterbehandlung.
Nullbock auf Neutönerei – dem scheinen die auf klassisch-romantische Programme stehenden Symphoniker wohl ein Ende gesetzt zu haben: mitten hinein ins Zentrum aufrüttelnder Klangereignisse führten sie ihre Abonnenten mit Bertold Hummels "Visionen" op. 73 nach der Apokalypse des Evangeiisten Joitannes. In seiner endzeitlichen Schau interessieren Hummel nicht nur die dramatischen Stationen des Weltgerichts, sondern auch jene geheimnisvolle Zahlenmystik (die Welt der Bilder mit ihren Siegeln), wie sie Messiaen zwölftönig als "language cornmunicable" anwendet. Hummels musikalisches Idiom ist zusammengesetzt aus tonalen und atonalen Strecken, Akkordtürmen, Vielstimmigkeit, durchsichtigem Melodiengeflecht Ausdruckssphären von Klage, Aufschrei und Hoffnung vereinigen sich zu einer suggestiven Abfolge expressionistischer Klangelemente von vehementer dramatischer Wirkung. Klänge von magischer Gewalt, insektenhaft skurril, turbulent schwirrend, allerdings nicht banal-pathetisch wie sie Joseph Martin Hauers "Apokalyptische Fantasie" op. 5 ausweist. Stationen empfindsamerer Gesten lassen auch Sphärenhaftes im Stile von Gustav Holsts "Planeten" erahnen. Immer gibt sich Hummels Botschaft gleichermaßen verschlüsselt wie sinnenfreudig, phantastisch-irregulär, nie hohl dröhnend. Der Sinnfälligkeit und Bildhaftigkeit dieser Sprache, dem weiten Bogen von den tastend flirrenden Streichern über zunehmend dicht bis tumultuarisch werdende Ereignisse bis hin zum erlösenden Stillstand in den verlöschenden Streichern – all dieser kniffligen Aufgaben entledigten sich die Symphoniker unter Klauspeter Seibels umsichtiger Leitung mit viel Engagement und Geistesgegenwart. Herzlicher Beifall, drei Mal wurde der Komponist aufs Podium gebeten.
Für das erste Konzert des Louisiana Philharmonic Orchestra in der "Reihe Beethoven and Blue Jeans" suchte Musikdirektor Klauspeter Seibel zur Eröffnung des Programms ein Werk das späten 20. Jahrhunderts aus. Bertold Hummels "Visionen" nach der Apokalypse des Johannes ist ein gewaltiges Werk, das ein volles Orchester und Schlagwerk voraussetzt.
Seibel und das Orchester offenbarten die vielfältigen Strukturen, die das Stück hervorheben. Das Schlagwerk war bei der Aufführung hervorragend aber auch die volle Palette des Orchesters wurde vom Komponisten ausgeschöpft und von Seibel verwirklicht.
Auch ohne genaue Kenntnis dieser satztechnischen Finessen beeindruckt die tonal ungebundene Musik durch raffinierte Klangmischungen, Formvielfalt und Ausdrucks-intensität. Die religiöse Inbrunst des ersten Satzes basiert auf einem Dreiton-Motiv (Symbol der Dreieinigkeit), das über einem irisierenden Klangteppich der Streicher und Schlagzeugbatterien in den Bläsergruppen hymnische Strahlkraft erhält. Im zweiten Satz werden die apokalyptischen Schrecken beschworen. wird das "neue Jerusalem als Menschheitshoffnung" apostrophiert. Hummel zitiert dabei das gregorianische Tedeum wie das B-A-C-H– Thema, mit dem der Satz ausklingt. Generalmusikdirektor Heinz Finger entschlüsselte die visionäre Mystik dieser dissonanten Musik mit Sinn für Konturen, präzise Akzente und subtile Farbstufungen. Die geistige Spannkraft, formale Schlüssigkeit und expressive Unmittelbarkeit der Interpretation sicherten dem Werk ebenso wie das konzentrierte Musizieren in allen Gruppen des verstärkten Orchesters einen Achtungserfolg, für den sich der anwesende Komponist persönlich bedanken konnte.
Härter, unerbittlicher als in der freundlichen "Reverenza" von 1966 spricht Hummel in den Visionen, die 1980 in der Berliner Philharmonie erfolgreich uraufgeführt wurden. Er ließ sich anregen von der Symbolkraft der biblischen Szenen aus der Johannes-Offenbahrung. Und es gelang ihm eine substanzdichte Musik, die apokalyptische Katastrophen ebenso spiegelt wie Friedenssehnsucht und gläubige Zuversicht.
In der vielschichtigen Struktur setzt ein starker Percussions-Apparat (sieben Pulte) wuchtige Akzente. Massive Ballungen schaffen Kontrast zu zarten Passagen. Hummel stellt sein religiöses Bekenntnis ins Kraftfeld von Chaos und Ordnung, von Verzweiflung und Erlösung. Hummels "Buch mit sieben Siegeln" erschloß sich spontan.
Hummel gestaltet die dramatischen Stationen des Weltgerichts, ihren Symbolgehalt und ihre geheimnisvolle Zahlenmystik mit einer klangsatten, bildkräftigen musikalischen Sprache und in klaren Formabläufen, die auch dem unvorbereiteten Zuhörer den Zugang in das geistig und musikalisch anspruchsvolle Werk erleichtern, ebenso die gekonnte, differenzierte Instrumentation einer Musik, die Bitonalität und zwölftönige Themen verwendet, um Unsagbares in Töne zu fassen.
Die Zwölftonreihe möge als Symbol für die andere Welt gelten. Es sind Visionen, die dem Zuhörer seine eigene Fantasiewelt öffnen, die berühren und in ihrer zeitgenössischen Klangsprache gleichzeitig zeitlos erscheinen.
Die vielfältigen Bilder der Apokalypse des Evangelisten Johannes inspirierten mich zu diesem Werk. In zwei sinfonischen Sätzen versuchte ich, etwas von der Faszination der Offenbarungen und deren Bedeutsamkeit für unsere Zeit einzufangen. Hierbei spielten nicht nur die dramatischen Szenen dieser Endzeitschau eine Rolle, vielmehr war die geheimnisvolle Zahlenmystik der Gesichte des Johannes für die Materialfindung sowie für den formalen Aufbau von Wichtigkeit. Bei der Komposition legte ich auf die Faßbarkeit der musikalischen Gedanken wie auch auf klare Formabläufe besonderen Wert.
Das Werk beginnt mit einem Fünftonklang und seinen Modifikationen. Ein Dreitonmotiv (Symbol des Göttlichen) tritt hinzu und gewinnt im Verlauf des Satzes immer mehr an Bedeutung. Mit der siebenmaligen Wiederholung des Tones f endet die Einleitung.
Bitonale Mixturklänge bestimmen den nächsten, überwiegend melodisch gestalteten Abschnitt, der in eine Vibrafonkadenz mündet.
Eine Folge von vier Tönen wird dem Dreitonmotiv gegenübergestellt. In der nun beginnenden Durchführung werden alle Satzelemente zusammengeführt. Auf dem Höhepunkt des Satzes, der schnell zurückgenommen wird, erscheint das Dreitonmotiv noch einmal im Unisono in aller Deutlichkeit. Einer besinnlichen, auf Klang gestellten Episode folgt ein kurzer, heftiger Ausbruch, der von einer ruhigen Coda abgelöst wird, in welcher das Ausgangsmaterial noch einmal anklingt.
Der 2. Satz ist im Wesentlichen ein stürmisches Allegro, die apokalyptischen Reiter signalisierend. Die vier ersten Töne einer Zwölftonreihe übernehmen die Funktion eines Kopfmotivs. Gegensätzliche, rhythmische Muster geben dem Satz, der wiederholt durch kontrastierende Einschübe unterbrochen wird, einen musikantischen Zug. Nach einer großangelegten Steigerung in langsamem Tempo, mit dem Kopfmotiv als basso ostinato, verklingt der Satz im äußersten pp. Die vier übereinander gelagerten Dreiklänge symbolisieren am Schluß des Werkes die vier Tore des himmlischen Jerusalems.
Das Werk entstand auf Anregung der Berliner Philharmoniker in den Monaten November 1979 bis April 1980.
Bertold Hummel
Die Symbolkraft der Bilder, die uns in den Offenbarungen des Johannes vorgestellt werden, hat immer wieder die schöpferischen Kräfte angeregt.
Zahlreiche Werke, die in den letzten Jahrzehnten entstanden sind, zeigen an, daß gerade die Künstler unserer Zeit eine besondere Affinität zu der in der Apokalypse aufscheinenden Bilder haben. Hierfür mag ein Grund sein, daß es naheliegt, die großen Kriege und Menschheitsnöte unseres Jahrhunderts in direkten Bezug zu den Verheißungen des Johannes zu bringen.
Die Frage des kritischen Menschen unserer Tage liegt nahe: Sind diese Gesichte des Evangelisten Halluzinationen eines Schizophrenen, gequälte Wunschträume eines Gefangenen und Gehetzten? Vernahm doch Johannes offenbar Stimmen, sah Gestalten, hörte Gesang, Posaunenklang und Donnerschläge, ließ sich befehlen und führte aus. Alles Anzeichen für eine psychiatrische Diagnose auf "Geistige Umnachtung".
Dem gegenüber steht der Wert des Ausgesagten, der Wahrheitsgehalt der Gesichte. In einer Vielzahl von Bildern wird Kampf und Sieg des Lichtes über die Finsternis ausgedrückt. In archetypischer Weise wird in der Apokalypse das Welt- und Menschheitsdrama dargestellt und ist daher "zeitlos". Sind nicht die Schicksale des Einzelnen sowie die ganzer Völker mitunter dramatische Antizipationen einer Endzeit, auf welche unsere Welt unabänderlich zugeht?
Schon lange Zeit bevor ich im November 1979 mit der Komposition meiner "Visionen" begann, hatte ich mich mit dem faszinierenden "Buch der sieben Siegel" beschäftigt. Zahlreiche bildnerische Interpretationen dieser Endzeitschau haben mich tief bewegt. Besonders nachhaltige Eindrücke empfing ich durch Olivier Messiaens "Quatuor pour la fin du temps", das der Komponist 1940 in deutscher Kriegsgefangenschaft schrieb und seitdem ein Schlüsselwerk in seinem Schaffen darstellt.
Es sind nicht nur die dramatischen Stationen des Weltgerichts, die mich als Musiker anregten, sondern auch vor allem die geheimnisvolle Zahlensymbolik der Apokalypse, die sich einer abstrakten, textlosen Deutung besonders anbietet. Es würde zu weit führen, eine umfassende tiefenpsychologische Interpretation zu versuchen. Hier seien nur einige Zahlen und ihre Bedeutung angeführt, die in meiner Komposition eine Rolle spielen.
Die Zahl 7 (7 Sterne, 7 Leuchter, 7 Siegel, etc.) ist mythologisch die der Wandlung, die zur Vollendung führt. Sie deutet auf ein Ganzes hin, das sich in einzelnen Auswirkungen und Gestaltungen vollendet.
Die Zahl 6 zeigt uns das Verhaftetsein mit der Materie an. Die Zahl 4 und ihre Vervielfachung, besonders 12, 24 und 144 ist der Ausdruck einer endgültigen Vollkommenheit, wenn Sie auf ein Fünftes (oder ein Dreizehntes) bezogen ist.
Ausgehend von der hebräischen Zahlenmystik schreibt WEINREB:
"12 ohne das Dreizehnte ist ein Zustand des Kampfes, in dem Gott mit Göttern kämpft, wie es in der Bibel heißt, ein Zustand fortwährender, ruheloser Bewegung. Aus dem Dreizehnten kommt Erlösung."
Aus dem oben Angeführten ist zu entnehmen, daß sich mein musikalischer Deutungsversuch nicht nur mit der Nachzeichnung einzelner dramatischer Szenen begnügt, sondern auch die Welt der Bilder mit ihren Siegeln mit einbezieht. So findet beispielsweise der Hinweis auf das himmlische Jerusalem - die ewige Gottesstadt - mit ihren 4 x 3 Toren am Ende des 2-sätzigen Werkes seine musikalische Umsetzung wie folgt:
Vier Dreiklänge werden allmählich übereinandergeschichtet zu einem Klang, der alle 12 Töne umfaßt. Das Werk, das auf Anregung der Berliner Philharmoniker entstand, wurde am 1. April 1980 beendet. Mit Sicherheit bin ich der Gefahr nicht entgangen, auch bekenntnishafte Züge in meine "Visionen" mit einzubringen.
Bertold Hummel
"Visionen" für großes Orchester op. 73
(nach der "Apokalypse" des Hl. Johannes)
Versuch einer Deutung
Obwohl sich der Komponist zu keinem seiner Werke so ausführlich geäußert hat wie zu seinen "Visionen", die er für die Berliner Philharmoniker aus Anlaß des Katholikentags 1980 schrieb, verwirren eben jene Äußerungen und analytischen Schemata mehr, als daß sie zu einem tieferen Verständnis des sehr nachdenklich stimmenden Tongemäldes beitragen. Ich sage "Gemälde", denn bildhaft bleiben die Eindrücke nach dem Hören der Musik ebenso wie beim Lesen der "Apokalypse" des Johannes von Patmos, von der sich Hummel, wie schon viele Künstler vor ihm, anregen ließ.
Zunächst hat sich Hummel durchaus kritisch mit dem Bibeltext auseinandergesetzt. Die folgenden Zitate sind ausnahmslos einem Einführungstext Hummels zu seinen "Visionen" op. 73 entnommen, den der Komponist dem Verfasser zur Verfügung gestellt hat.
Sind diese Gesichte des Evangelisten Halluzinationen eines Schizophrenen, gequälte Wunschträume eines Gefangenen und Gehetzten? Vernahm doch Johannes offenbar Stimmen, sah Gestalten, hörte Gesang, Posaunenklang und Donnerschläge, ließ sich befehlen und führte aus. Alles Anzeichen für eine psychiatrische Diagnose auf "geistige Umnachtung".
Dessen ungeachtet plädiert Hummel jedoch für den Wahrheitsgehalt der Gesichte und sieht in ihnen eine urbildliche Darstellung vom Kampf des Guten gegen das Böse: In einer Vielzahl von Bildern wird Kampf und Sieg des Lichtes über die Finsternis ausgedrückt. In archetypischer Weise wird in der "Apokalypse" das Welt- und Menschheitsdrama dargestellt ... Sind nicht die Schicksale des Einzelnen sowie die ganzer Völker mitunter dramatische Antizipationen einer Endzeit, auf welche unsere Welt unabänderlich zugeht?
Während seiner gesamten Laufbahn als Komponist fühlte sich Hummel immer wieder von apokalyptischen Themen, insbesondere den Johannes-Visionen, angezogen:
Schon lange Zeit, bevor ich im November 1979 mit der Komposition meiner "Visionen" begann, hatte ich mich mit dem faszinierenden "Buch der sieben Siegel" beschäftigt.
Der Verfasser vermutet, daß der Grund für diese "Faszination" in Hummels eigener Biographie zu suchen ist, der, wie die meisten seiner Generation, als noch nicht einmal 20jähriger 1943 zum Kriegsdienst gezwungen wurde. Eigenen Aussagen zufolge hat diese Zeit ein tiefes Trauma bei ihm hinterlassen. So scheint er die apokalyptischen Bilder auf seine eigenen Jugenderfahrungen bezogen zu haben:
< Es liegt nahe >, die großen Kriege und Menschheitsnöte unseres Jahrhunderts in direkten Bezug zu den Verheißungen des Johannes zu bringen.
Den Schrecken des Krieges und der möglichen globalen Vernichtung hat Hummel auch in früheren Werken wiederholt dargestellt: in den ersten beiden Sinfonien erklingt ganz offensichtlich Musik als Spiegel der Angst. Beide Werke haben indessen noch ein optimistisches Finale. Anders im 1975 uraufgeführten Ballett "Die letzte Blume" op. 55a, nach einer Bildergeschichte von James Thurber: während sich bei Thurbers Vorlage Zerstörung und Wiederaufbau der Welt zu einer endlosen Kette reihen, wobei die Menschen jedesmal vergessen, warum ein Krieg eigentlich geführt wurde (die Blume symbolisiert den Glauben an das Unzerstörbare im Menschen), läßt Hummel nach einem mit Atomwaffen geführten Krieg schließlich auch die Blume sterben.
Am Schluß seiner "Visionen" geht Hummel zwar auf die Johannes-Vision vom himmmlischen Jerusalem ein, deutet sie aber nur durch einen Zwölfton-Klang an, welcher aus vier reinen Dreiklängen (die 4 x 3 Tore der Stadt!) geschichtet ist, der bei ihm in anderen Werken ("Die letzte Blume", "Poem") die Sphäre des Traums vertritt. Somit bleibt sein Schluß zumindest vieldeutig, denn ein Traum kann sowohl Vorahnung als auch Illusion bedeuten.
Claus Kühnl (aus:"Die Sinfonischen Werke Bertold Hummels" in "Bertold Hummel", Komponisten in Bayern Band 31, Tutzing 1998)