BERTOLD HUMMEL - Texte zu den Werken: opus 100 Zurück zur Verzeichnisliste |
3.
Sinfonie "Jeremia", op. 100 (1994-96) I. Moderato (Anathot) Anfang II. Presto (Babylon) Anfang III. Adagio (Lamentationes Jeremiae) Anfang IV. Moderato (Hymnus-Lakén) Anfang
Uraufführung:
15. August 1997, Riedenburg Besetzung: Schlagzeuginstrumentation: Aufführungsdauer: 45 Minuten Autograph: Verlag: Schott Music Int. (Leihmaterial) Video: Hummelwerke auf youtube
Die dritte Sinfonie Jeremia op. 100 entstand in den Jahren 1994-96. Der Auslöser für die Komposition war die Lektüre des Romans "Jeremias" von Franz Werfel. Die 4 Sätze der Sinfonie sind wichtigen Lebensabschnitten des Propheten zugeordnet So spielt im 1. Satz die Berufung des jugendlichen Jerermia im heimatlichen Anathot, zu dem er zeitlebens immer wieder zurückkehrte, eine besondere Rolle. Der 2. Satz erinnert in seiner Unerbittlichkeit an die babylonische Gefangenschaft des Volkes Israel. Die berühmten Klagelieder über Jerusalem finden im 3. Satz ihren musikalischen Niederschlag. Der Finalsatz bringt das "dennoch" (Lakén) zum Ausdruck, das der leidgeprüfte Gotteskünder immer wieder seinen persönlichen Niederlagen und Nöten engegengesetzt hat. Die Tonsprache der Sinfonie ist expressiv und unorthodox. Alttestamentarische Zahlensymbolik spielt ebenso einen Rolle wie modale Verfahrensweisen bis hin zu Zwölftonfeldern. Bertold Hummel
Werkanalyse des Komponisten:
Fragen
an Bertold Hummel Aus der Hindemith-Genzmer-Schule kommend, habe ich mich schon in den 50er Jahren einem Pluralismus der Kompositionsmethoden geöffnet. Von Kindheit an mit der Gregorianik vertraut, interessierten mich zunehmend modale Verfahrensweisen bis hin zur Dodekaphonie. Neben klanglichen Erweiterungen wie die der Polytonalität oder Messiaens Klangfarbentheorien galt meine Neugier vor allem rhythmischen Errungenschaften anderer Kulturkreise sowie der Einbeziehung elektronischer Möglichkeiten. Dabei blieb das "Dreieck" Komponist - Interpret - Hörer für mich eine stete Herausforderung, die es gilt auf verschiedene Weise zu bestehen: auf dem anspruchsvollen Niveau einer virtuosen Orchester- oder Kammermusikpartitur bis hin zum sehr ernst genommenen Komponieren für Laienmusiker und für Kinder. Welchen kompositorischen Vorbildern fühlen Sie sich in Ihrer Laufbahn besonders verpflichtet? Palestrina — Bach — Bruckner - Messiaen Hebt sich die 3. Sinfonie in der Wahl der musikalischen Ausdrucksmittel von ihren bisherigen Werken ab? Welchen zeitgenössischen Komponisten steht es Ihrer Meinung nach am nächsten? Ich würde am ehesten eine Anknüpfung an die Ausdrucksmittel meines Oratoriums "Der Schrein der Märtyrer" op. 90 sowie an die meiner "Visionen " für großes Orchester" op. 73 ansprechen. Von der Ästhetik und Zielsetzung her fühle ich mich der Musik Olivier Messiaens verbunden. Welches Verhältnis haben Sie zur Sinfonik Anton Bruckners, dessen 1. Sinfonie als zweites Werk im Konzert zu hören sein wird? Mein Verhältnis zu Bruckners Sinfonik ist ein sehr enges, da eine frühe Begegnung mit seiner 3. Sinfonie der Auslöser dafür war, daß ich den Beruf des Komponisten anstrebte. Meine Verehrung für den genialen Sinfoniker ist bis heute konstant geblieben. Nach Ihren eigenen Angaben hat die Lektüre des Romans "Jeremias - Höret die Stimme" von Franz Werfel Sie zur Komposition inspiriert. Liegt der Sinfonie damit eine Handlung bzw. ein Programm zugrunde, das auf einzelnen Schilderungen des Romans basiert? Obwohl eine programmatische Idee vorgegeben ist, enthält die Sinfonie kein verfolgbares "Drama" des Jeremia-Stoffes, vielmehr werden einzelne Stationen, die mich besonders beeindruckten, quasi gleichnishaft ausgedeutet. Welche Kapitel bzw. Passagen des Romans haben Sie besonders nachhaltig beschäftigt? Die Berufung des Propheten, das Babylon Nebukadnezars und die babylonische Gefangenschaft der lsraeliten, die Klagelieder des Jeremia, dessen Weg - der sich nach Erfüllung des Auftrags in der ägyptischen Verbannung verliert. Auch Leonard Bernstein hat eine bekenntnishafte 1. Sinfonie mit dem Titel "Jeremiah-Symphonie" geschrieben. Er nahm mit diesem Werk, das 1942 entstanden ist, Anteil an den schrecklichen Leiden der Juden unter den Nazis in Europa. Kennen Sie das Werk Bernsteins und hat es Sie bei der Konzeption Ihrer 3. Sinfonie beeinflußt? Bernsteins Sinfonie hörte ich erstmals nach der Fertigstellung meiner Arbeit an. Seine eindrucksvolle Konzeption, die gesungene Texte miteinbezieht, folgt meines Erachtens anderen Vorgaben. Gab es auch für Sie, neben der Beschäftigung mit Werfels Roman, einen aktuellen Anlaß, aus dem heraus Sie sich den Klageliedern des Jeremia zugewendet haben? Die Klagelieder sind durch die Jahrhunderte wiederholt musikalisch ausgedeutet worden; sie gehören auch zur Karwochenliturgie der römischen Kirche. Schon lange hatte ich die Absicht einer eigenen musikalischen Realisation. Woraus besteht das kompositorische Material der 3. Sinfonie? Welcher Tonsprache bedienen Sie sich? Wie unterscheidet sich für den Zuhörer das motivische Material und welcher Entwicklung wird es unterzogen? Das Material besteht aus festgelegten Tonfolgen (modi) Akkordschichtungen und Rhythmen, die meines Erachtens trotz vielfacher Variierung wieder erkennbar sind. Die Entwicklung spielt nicht so sehr eine Rolle wie die Gegenüberstellung von musikalischen Zuständen, in denen das Tonmaterial seine Gestalt verändert. Meine Tonsprache ist pluralistisch, sie bedient sich unorthodox der Modalität, der Polytonalität bis hin zu 12-Ton-Feldern; sie bedient sich einfacher rhythmischer Modelle bis hin zu vielschichtigen metrischen Überlagerungen. In der Instrumentation haben Perkussionsinstrumente einen besonderen Stellenwert. Sogar Ketten, Eisenplatten und ein Klangrohr sind in das sinfonische Geschehen eingebunden. Wie nimmt z.B. der Gedanke der Berufung Jeremias‘ im 1. Satz musikalisch konkret-hörbare Gestalt an? Die langwierige Berufung des jugendlichen Priestersohnes Jeremia, der sich in keinster Weise dem Prophetenamt gewachsen fühlt und der immer wieder zwischen Zweifel, Auflehnung und Ergebenheit schwankt, bestimmt einen großen Teil des 1. Sinfoniesatzes: hier dargestellt in den ersten sieben Takten: Jahwe ruft: "Jeremia" Keine Antwort. Anathot (nahe Jerusalem), der Geburtsort des Jeremia, zu dem er zeitlebens immer wieder zurückkehrte, ist für ihn irgendwie eine Kraft- und Trostquelle geblieben. Mit welchen musikalischen Mitteln und Klängen suggerieren Sie die babylonische Gefangenschäft des Volkes Israel? Babylon, das damallge Grossreich Nebukadnezars, der 605 v. Chr. die Ägypter entscheidend bei Karkemisch geschlagen hatte, wird symbolisiert durch eine unerbittlich rhythmisch variable Bewegung von drei Schlagzeugern, scharf akzentuiert durch das Orchestertutti. Eine wehmütige, choralartige Melodie, die auf die Stimmung der lsraellten in der Gefangenschaft schließen läßt, taucht wiederholt wie hinter einem Vorhang auf. Dominant bleibt die Machtentfaltung Babylons. Die berühmten Klagelieder bilden den Hintergrund für den 3.Satz Ihres Werkes ... Die Lamentationes - das Kernstück der Sinfonie - versuchen Jeremias Leiden, Demütigungen, seine Einkerkerungen sowie seine Klage über den Untergang Jerusalems musikalisch zu deuten. Er hatte die Zerstörung der Stadt vorhergesagt wegen des Abfalls der Israeliten von Jahwes Weisungen, er hatte die Unterwerfung unter Babylon gefordert und eine siebzigjährige Gefangenschaft angekündigt und sich damit den unversöhnlichen Hass seiner Gegner zugezogen. Ist die Auseinandersetzung mit der 3. Sinfonie auch eine Art persönliches "Laken", ein "dennoch" des Komponisten Bertold Hummel? Das "Laken" welches Jeremia immer aufs neue vor der Verzweiflung bewahrt hat, kann meines Erachtens vorbildlich für alles menschliche Leiden und Tun gelten. Für das Judentum in seiner unsäglichen Bedrängnis in unserem Jahrhundert war dieses "dennoch" ein Anker der Hoffnung.
1997 wurde seine dritte Symphonie op. 100, ‚Jeremia' (inspiriert vom Roman Franz Werfels), uraufgeführt. Hummel gab mir die sogleich erschienene CD mit der in ihrem Mangel an Insistenz so charakteristischen Bemerkung: ‚Na, vielleicht haben Sie Zeit, sie sich anzuhören.' Entsprechend unvorbereitet trafen mich die Wucht und Tiefe der Klänge dieses großen, bedeutenden Werkes. Was für Farben in Harmonik und Orchester! Welche Dichte der Form und gleichzeitig: welche Klarheit, Deutlichkeit der Klangrede! Thomas Daniel Schlee (in "Guardini-Stiftung e.V. - Jahresbericht 2002, Berlin")
Die
Wirkung des Werkes beruht nach meiner Ansicht weniger auf dem Entwicklungsprinzip
der Sinfonik des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als vielmehr auf der Magie von
Klangprojektionen in den verschiedenen Dimensionen (horizontal, vertikal, dynamische
Zu- und abnahmen). Alfred Thomas Müller (Komponist, Halle/Saale)
Presse FAZ, 23.07.1999 Hummels Jeremia-Sinfonie Aus der Hindemith-Genzmer-Schule zu kommen und Olivier Messiaen als kompositorisches Vorbild zu nennen, ist für den Würzburger Komponisten Bertold Hummel, Jahrgang 1925, kein Widerspruch. Er verbindet Hindemiths Anspruch auf musikalische Transzendenz, wie er in der Keppler-Oper und gleichnamigen Sinfonie "Die Harmonie der Welt" auskomponiert wurde, mit Messiaens modal geprägter, glaubensbekenntnishafter Musik zu einem pluralistischen, choraldurchsetzten Komponieren. Mit fast jedem seiner viele Gattungen umfassenden Werke versucht Hummel, den "Sinn der Welt im Gotteslob" hörbar zu machen. Er schreibt jedoch keine geistliche Gebrauchsmusik, die ihre Zeitgenossenschaft sakral legitimieren müßte. Zwar gibt es oft biblische Bezüge, doch stilistisch, spieltechnisch und vor allem klanglich haben seine Werke auch ohne geistlichen Beistand ihren festen Platz im aktuellen Komponieren. Seine vor zwei Jahren uraufgeführte dritte Sinfonie "Jeremia" hat das bestens eingestellte Philharmonische Orchester Würzburg unter der energischen Leitung von Jonathan Seers als Konzertmitschnitt verblüffend brillant eingespielt. Die langwierige Berufung zum Propheten des jugendlichen Priestersohns Jeremia wird in einem musikalischen Kreisen zwischen einfachen rhythmischen Modellen bis hin zu vielschichtigen Überlagerungen gedeutet. Mit vielfältigem und farbenreichem Schlagzeugapparat fand Hummel für die berühmten Klagebilder über das drohende Schicksal der Stadt Babylon eine gestisch raumgreifende, nicht jedoch plakative Tonsprache. Klangliche Bewegung ist bei Hummel unmittelbar körperlicher Ausdruck, so daß dunkle Stimmungen Unheil und helle Klangfarben Gutes verheißen. Jeremias Selbstzweifel werden mit einer pastellenen Mischung aus den Extremen dargestellt. Vor allem Hummels virtuos-konzertierender Umgang mit den Instrumenten macht das Werk hörenswert.
Donaukurier 18.8.1997 Hummels Tonsprache geht von kleinen Motivzellen aus, gibt sich archaisch streng und ernst, malt die Stimmungen von Angst, Bedrohung und Düsternis sehr eindringlich aus, verweist jedoch immer wieder auf versöhnliche Visionen und ambivalente Gefühle jenseits von Furcht und Schrecken.
FAZ 16.9.1997 Die Uraufführung der bekenntnishaften dritten Sinfonie "Jeremia" von Bertold Hummel mit ihrer sich aufbäumenden Gestik geriet geradezu apotheotisch.
Main-Echo 21.8.1997 Hummel schöpft die Möglichkeiten der Kombination und Transformation der thematischen Zellen aus, findet zu imponierend vielgestaltigem Orchesterklang und erweist sich ein weiteres Mal als souverän im Umgang mit einem Rieseninstrumentarium.
Mittelbayerische Zeitung 18.8.1997 Hummels
Instrumentierungskünste sorgten für abwechslungsreiches Geschehen, schillernde
Streicherklänge, farbenreich abgestuftes Holz und repräsentative Blech-Einwürfe
kontrastierten mit rhythmisch betonten Passagen, durch allerlei Schlagwerk forciert.
Besonders beeindruckte der Klagelieder-Satz mit intensiver Tonsprache, eine etwas
längere Steigerungspassage brachte der Schlußsatz, der nach archaisierendem
Pathos leise verklang. -- |