BERTOLD HUMMEL - Texte zu den Werken: opus 55b Zurück zur Verzeichnisliste |
Sinfonische Suite nach dem Ballett "Die letzte Blume" op. 55b (1974/75) I. Movimento infernale und Pas de deux Anfang II. Scherzo III. Notturno V. Mascherata Anfang und Ende VI. Finale. Movimento infernale Anfang
Orchester: 3.3.3.3 - 4.3.3.1 - Pk., Schlgz., Hrf., Streicher Uraufführung:
14. Mai 1975, Schweinfurt, Theater der Stadt Schweinfurt Aufführungsdauer: 32 Minuten Verlag: N. Simrock Hamburg-London (Boosey & Hawkes) VI. Mascherata - Struktur: Video: Hummelwerke auf Youtube
Trotz der großen stilistischen Einheit einer unverkennbar persönlichen Handschrift weist Bertold Hummels Sinfonische Suite für großes Orchester aus dem Ballett "Die letzte Blume", bedingt natürlich durch das vorgegebene Programm, große Gegensätze auf. Stampfende Soldatenmärsche – kindliches Spiel, maschinenhafte Automatenpräzision – zart erblühendes Tonfiligran, um hier nur die hervorstechendsten der Kontraste zu nennen, bieten kaum Verständnisschwierigkeiten. Sie nehmen Bezug auf das, was auf der Bühne getanzt wird und werden spontan als Sinnbilder für charakteristische Grundtypen menschlichen Verhaltens erkannt. Die kompositorischen Gesetzmäßigkeiten sind jedoch weitaus vielfältiger und erschöpfen sich keineswegs in derart plakathaften Anspielungen auf die Handlungsrealität. Sieben Sätze folgen – teils in sich abgeschlossen und einheitlich, teils mehrgliedrig – der Handlung und verknüpfen deren Phasen mit rein musikalischen Mitteln, wodurch die Musik neben aller inhaltlichen Determination ein hohes Maß an symphonisch-konzertanter Eigenständigkeit erhält. Der erste Satz Movimento infernale und Pas de deux exponiert die Problematik durch einen groß angelegten Antagonismus. Nach den Wellen einer sich aufbäumenden Klangfläche, in der sämtliche zwölf Töne der Tonleiter simultan erklingen, wird mit verbissener Penetranz eines der Hauptintervalle des Werks gehämmert, der Tritonus E–B, dem sich bald darauf eines der beiden häufig wiederkehrenden Themen zugesellt: Dieses Thema, geprägt durch Tritonusschichtung und militante Rhythmik, tritt im weiteren Verlauf symbolisch immer dort auf, wo das Geschehen um Gewalttätigkeit kreist. Mit seinem ersten Auftreten wird ein Diktator gezeichnet und umgeben von Blechbläserfanfaren, die solange reine Dreiklänge übereinanderschichten bis das chromatische Total erreicht und der Klang immer stärker durch sich selbst eingetrübt wird. Im Untergrund erklingt weiterhin das Erkennungsthema des Diktators, hier in Abwandlungen: Dazu kommen nach einigen Takten die Motive der Schergen des Diktators. Quasi-tonale Reste, wie z. B. dominantische Quinten, durchziehen das stark chromatisch eingefärbte Material und geben ihm stets dann einen gewissen trivialen Anstrich, wenn nichtige Geschäftigkeit und unreflektierte Konvention gemeint sind. Nachdem solcherart die Präsentation von Macht einen Höhepunkt erreicht hat, setzt – musikalisch gesehen quasi die erste Durchführung – eine auf den bekannten Motiven und Klängen aufbauende Schlachtschilderung ein, in der das Material rhythmisch und koloristisch zerfasert wird. Es wird an dieser Stelle ein Effekt vorweggenommen, der im 6. Satz zur Virtuosität sich steigert: im Aufmarsch der einander befehdenden Truppen überlagern sich mehrere Phrasen mit jeweils anderer Periodik und bilden eine sehr dicht gewebte Struktur. In bizarrer Verfremdung erstarrt das Getümmel nach einer Klimax, und hinter der Bühne, sozusagen aus einer anderen Welt, erklingt als Gegenpol zu allem bisher Dagewesenen das Thema der Blume: Darauf antwortet das Vibrafon aus dem Orchester und überführt in einem Zwiegespräch mit der Flöte die gewissermaßen übersinnliche Vision in die reale Welt. Es leitet einen Pas de deux ein, den schwebenden und immer drängender werdenden Tanz zweier Liebender, der – zweimal vom Blumenthema in Gang gesetzt – die beißenden Intervalle des Hauptthemas zu Leittönen neutralisiert und der lichteren Klangwelt reiner Dreiklange Platz macht. Diese breitet sich aus, verfremdet, aber stets durchsichtig im Klang, im anschließenden Scherzo, dessen kindlich-naive Tanzliedmelodik geprägt ist von Terzen und reinen Quinten, und das durch seinen Dur-Schluß eine innere Verbundenheit mit dem folgenden Satz an den Tag legt. Reine Dreiklänge beherrschen das Notturno, den dritten Satz. Hauptthema und Gegenthema sind in lyrischer Zartheit verwandelt und ineinander verschlungen und erfüllen die Funktion des langsamen Satzes in einem symphonischen Organismus. Im 4. Satz, einem Intermezzo meccanico, treten Verbindung zu den leitenden Themen des Werk-ganzen markant zu Tage. Während das Blumenthema nur einmal wie eine flüchtige Vision und mit der Wirkung eines störenden Fremdkörpers aufscheint, tritt das Hauptthema ständig auf, und zwar in charakteristischen Veränderungen, durch die seine ursprüngliche Agogik in den wohlkalkulierten Gestus kühler Rationalität umschlägt. Gemäß seiner Bezeichnung praktiziert das Intermezzo die Satztechnik, von der das gesamte Werk nicht unbeeinflußt ist – die Reihenkomposition – in absichtlich mechanistischer Weise und wird so zum Sinnbild kalter Berechnung. In wirkungsvollem Kontrast dazu steht die Mascherata, in welcher sich der Kreis zum ersten Satz schließt. Immer unausweichlicher löst sich aus der höchst artifiziellen Überlagerung verschiedener Klangschichten ein einziges musikalisches Profil, das des Diktators, welches als einziges übrig bleibt, nachdem alle übrigen Themen verstummt sind. Sämtliche Themen, seien sie aus den vorangehenden Sätzen zitathaft herüber geholt, seien sie neu hinzugekommen, Leierkastenmelodie, Tanzlied, das vom Blumenthema abgeleitete Thema des Demokraten, alles, was sich dem Hauptthema zugesellte oder ihm entgegenstellte, fällt zurück und macht dem Diktator Platz, der im Finale. Movimento infernale in einer gerafften Reprise des Movimento infernale seine eingangs präsentierte Machtentfaltung fortsetzt. Knapp und resignierend klingt die Reminiszenz der Flötenkadenz, ehe sich ein atmosphärischer Streichervorhang in zunehmender Verdichtung vor alles Geschehen legt und es auslöscht. Klaus Hinrich Stahmer Literatur-Tipp Claus Kühnl: Die letzte Blume - eine Werkbetrachtung Bertold Hummel: Die Bedeutung der Percussioninstrumente im meinen Orchester- und Kammermusikwerken |