BERTOLD HUMMEL - Texte zu den Werken: opus 46


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2. Streichquartett, op. 46 (1972)

I. Mosaici  

II. Lamentationes

 

Uraufführung: 4. Juli 1972, München, Sendesaal der Bayerischen Rundfunks
Sinnhoffer-Quartett (Ingo Sinnhoffer / Werner Grobholz / Herbert Blendinger / Franz Amann)

Aufführungsdauer: 11 Minuten

Verlag: N. Simrock Hamburg-London (Boosey & Hawkes)
Taschenpartitur: ISMN M-2211-1330-6
Stimmen: ISMN M-2211-1329-0

I.II.

Conventus Musicus CM 106

 

Die beiden Sätze des Zweiten Streichquartetts sind überschrieben mit "Mosaici" und "Lamentationes". Im ersten Fall gibt der Titel eine allgemeine Vorstellungshilfe zur Satzstruktur. Diese stellt sich dar als differenziertes Netzwerk, das aus zwei bestimmten Viertonmotiven gefügt ist. Die vielfältigen "mosaik"-artigen Konstellationen und Veränderungen dieser elementaren Bausteinchen ergeben ein stets wechselndes, farbenreich schillerndes Klangbild. In der Verarbeitung der Vierton-Komponenten spielt die Tonkonstellation B-A-C-H eine wesentliche Rolle. Durch die stete Gegenwart von dreimal vier Tönen bieten sich zwölftönige Verdichtungen als naheliegendes satzinternes Prinzip an. Jedoch unterwirft sich der Komponist nicht der strengen Konsequenz dodekaphonischer Regeln (wie etwa Anton Webern), sondern er verfügt "frei" über die Bildung zwölftöniger Konstellationen sowohl im zeitlichen Nacheinander wie in der Gleichzeitigkeit der Töne. Ein Solo des Violoncellos bildet die formale Mitte des ersten Satzes. Um diese sind einander entsprechende Verarbeitungsabschnitte konzentrisch angeordnet. So klingt denn auch am Schluß des Satzes dessen Beginn wieder an.

Im Falle der "Lamentationes" bezieht sich der Titel auf die Rezitationsformel, nach welcher die "Klagelieder" des Propheten Jeremias gesungen werden. Die liturgische Vorlage geht in dem dreiteiligen Satz lineare Verflechtungen ein und wird mannigfachen Umformungen unterzogen. Für die klangliche Umsetzung der Satzstrukturen verlangt der Komponist den Spielern jegliche Spielweisen ab, die Streichinstrumente zulassen, übliche wie ungewöhnliche.

Das "2. Streichquartett" op. 46 entstand als Auftragswerk des Bayerischen Rundfunks und wurde anläßlich der Eröffnung der Konzertreihe "Olympischer Sommer" 1972 in München uraufgeführt.

Bertold Hummel

 

Im Auftrag des Bayerischen Rundfunks schrieb Bertold Hummel 1972 sein 2. Streichquartett, welches zur Eröffnung der Konzertreihe "Olympischer Sommer" vom Sinnhoffer-Quartett in einem öffentlichen Konzert in München uraufgeführt wurde.

Der erste Satz trägt die Überschrift "Mosaici". Diese Bezeichnung kann man verschieden auf den Satz beziehen. Was zunächst auffällt, ist der gläserne, hell-leuchtende Gesamtklang, der auf kompakten Flageoletthäufungen und ähnlichen Klangverfremdungen beruht und an die Farbimpressionen blau-goldener Mosaiken von hoher Leuchtkraft und je nach Lichteinfall changierender Oberfläche erinnert. Jedoch bietet sich eine weit stärker das eigentliche Formprinzip berührende Interpretation an. Kleine Viertongruppen, deren Intervallkonstruktionen im Sinne Webernscher Keimzellen aus sich heraus durch Entfaltung und Projektion in das Akkordische nutzbar gemacht werden, ergeben ein dichtes, fast flächiges und kleingruppenhaft wechselndes Klangbild. Dieses Prinzip, welches Hummel in seinen "Metamorphosen über B-A-C-H" (1971) erstmals in extenso verwendet und zu einer eigenwilligen Lösung geführt hat, wird hier aufgegriffen und im Minutiösen intensiviert. Um das kurz zu erläutern: Im Sinne des klassischen Themendualismus treten im Quartett nicht nur eine, sondern zwei unterschiedliche motivische Keimzellen (Viertongruppen) auf, deren jeweils verschiedene Konstellation die Reibungsfläche für großformal angelegte Durchführungspartien ergibt. Durch Verdrehungen der B-A-C-H-Konstruktion als einer dritten Komponente, d.h. Sekunden, Terz und deren Oktavversetzung, werden die Gruppierungen untereinander verschmolzen. So ergibt sich die Basis für klassische Sonatenform ohne Möglichkeiten zur dramatischen Abwicklung. Der Kulminationspunkt liegt demzufolge im Zentrum des ersten Satzes in einer mit "quasi cadenza" bezeichneten freien Passage des Violoncello, in der die heterogenen Partikel zu einer Synthese gebracht werden. Um diesen Mittelpunkt ordnen sich durchführende, exponierende und reprisenhafte Teile weitgehend symmetrisch an, bis der Satz mit einer Assoziation des ersten Beginns schließt.
Ganz im Sinne zwölftönig verdichteter Gestaltung des Details ist der Satz im Grunde permanente Durchführung mit gewissen retardierenden Episoden, und weiterhin im Gefolge entsprechender Kompositionspraxis wird horizontal wie vertikal alles aus den Motivzellen abgeleitet. Dennoch kann der Satz nicht als orthodox dodekaphonal bezeichnet werden, denn die Zwölftonflächen entstehen immer aus einer Ergänzung des vorhandenen, motivisch bereits Determinierten zur Präsenz aller Töne bei einer relativ freien Tonfolge. Weiterhin sind es oftmals weniger die logisch ableitbaren Intervall- und Tonhöhenverhältnisse als vielmehr Ausdrucksqualitäten hoher Expressivität, die den Ablauf bestimmen und leicht überhörbar machen. Diese Qualitäten beziehen auch Klangtechniken modernster Streicherbehandlung integrativ mit ein, die aber - wie bereits dargestellt - funktional gebunden und weniger als Effekt um ihrer selbst willen verwendet werden.

Spiegelungen und Umkehrungen und eine große Dreiteiligkeit prägen großformal den abschließenden langsamen und mit "Lamentationes" titulierten, zweiten Satz. Der Satz zitiert den Lektionston der Lamentationes Jeremiae, allerdings so sehr in motivische Abläufe verwoben, dass sein Ursprung nicht mehr dominant zu Tage tritt. Stärker noch als im ersten Satz nimmt der Komponist hier die Möglichkeiten ausdrucksstarker Linearität wahr. Besonders erwähnt zu werden verdient der Vorgang der stufenweisen Bindung eines anfangs recht äußerlich eingesetzt wirkenden Tuttiglissandos, welches bei jeder Wiederkehr stärker in die Linearität eingeschmolzen erscheint, bis es ganz am Schluss als letzte Geste konsequent aus den Schlussakkord herauswächst und eine Aufhebung der Tonbezogenheit, ja eventuell sogar des Tönens an sich hörbar macht. Man denkt dabei an entsprechende letzte Abschlüsse, die das zuvor Geformte in Frage stellen, wie etwa in Bergs Lyrischer Suite oder Hindemiths Soloviolinsonate. Das ist hier eine sehr plausible Finalität, die angesichts des von vornherein undramatisch und symmetrisch um einen Kulminationspunkt angelegten Formablaufs gar nicht befremdlich klingt.

Das Quartett ist ein Resümée aller Erfahrungen, die einem Komponisten zu diesem Zeitpunkt möglich sind, und es liegt das eigentlich Neue dieses Quartetts eben in dieser Verschmelzung moderner Streicherpraktiken - wie Hummel sie auch schon in seinen "Klangfiguren" anwandte - mit motivisch-logischer Gestaltung des Details. Was dabei herauskommt ist neu, wenn es auch nirgends durch Ungewohntes schockiert.
Es wäre müßig, wollte man für alles immer gleich nach Vorbildern suchen. Natürlich gab es die Zweisätzigkeit in der Folge schnell-langsam schon vorher, und auch die Streichereffekte sind dem Hörer sicherlich schon einmal begegnet, doch darauf kommt es gar nicht an. Entscheidend ist, dass auf der Grundlage genauer Kenntnis der besten Quartettkompositionen ein eigenständiges Werk entstanden ist, welches von großem Verantwortungs- und Geschichtsbewusstsein zeugt.
Hummel hat darin eine Zwischenbilanz alles dessen gezogen, was ihn als Traditionshintergrund zur ständigen geistigen Auseinandersetzung auffordert.

Klaus Hinrich Stahmer (Programmheft 21.1.1980, Studio für Neue Musik, Würzburg)

 

Im Mai 1981 äußerte sich Bertold Hummel in einem Brief an den Freund und Dirigenten Günther Wich, dass er sich sein 2. Streichquartett op. 46 auch in einer choreographierten Interpretation vorstellen könnte.

 

Presse

Part. Editio Musica Budapest Z. 7144

Ein Beispiel für verantwortungsbewußte Auseinandersetzung mit der Gattungstradition ohne einen Verlust persönlichen Sprachstils und Formungswillen ist das 2. Streichquartett (1972) von Bertold Hummel.

Im 1. Satz ("Mosaici") werden Elemente der Sonatensatzform reflektiert und unter Einbeziehung verschiendenster Streichertechniken im Sinne individueller Ausdrucksweise neu belebt, wobei die Intervallstruktur kleiner Motivzellen die Materialbehandlung beherrscht. Glissandi, bereits in diesem Satz mehrfach parallel geführt, gewinnen im zweiten ("Lamentationes") zunehmend kunstruktive Bedeutung. Daneben erhalten horizontale Spiegelungen und eine Art ganztonleiterbezogene Mixturbildung gestaltende Funktion in diesem ebenfalls motivisch geprägten Satz. In der kompositorisch genutzten Verbindung von Streichertechnik und motivischer Arbeit liegt der besondere Verdienst dieses Werkes.

 

Schweizer musikpädagogische Blätter 9/1991

... ein gut durchgehörter richtiger Quartettsatz, fein durchgearbeitet, klanglich apart und in sich stimmig ...