BERTOLD HUMMEL - Texte zu den Werken: opus 75d


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Adagietto für Streichsextett, op. 75d (1978/1999)


Uraufführung: 30. Oktober 1999, Güthersloh, Stadttheater
Georg Döring / Wiebke Corßen / Beate Corßen / Gregor van den Boom / Bertold Hummel / Michael Corßen

Uraufführung der Orchesterfassung: 25. August 2024, Avigliano Umbro, Teatro
Bella Musica Ensemble des Mozarteums Salzburg | Stefan David Hummel

Besetzung: 2 Violinen, 2 Violen, 2 Violoncelli

Aufführungsdauer: 6,5 Minuten

Autograph:
Titel: Adagietto sacrale für Streichsextett op. 75e (sic) (1980)
Umfang: 12 Seiten
Datierung: 5.12.78

Aufbewahrungsort: Bayerische Staatsbibliothek München

Verlag: Schott Music ED 20289 / ISMN: M-001-14994-5


Druckfehler:
Takt 83: Vla. II, Vlc. I+II: 2. Halbe Note pp
Takt 125: Vcl. I+II: 2. Halbe Note portato

Eine Partitur der Erstausgabe versieht Hummel mit dem Bleistiftvermerk „auch chorisch besetzbar“.
In eine andere markierte er mit Bleistift folgende Stellen, bei denen auch ein Kontrabass mitspielen könnte:
Takt 11+12
Takt 23-76
Takt 82-86 (nur die erste Halbe Note)
Takt 91-138
Takt 159-160 (jeweils Pizz. E)

Kontrabasstimme:


Vorwort (Schott Music ED 20289)

Vorliegendes Adagietto beschäftigte Bertold Hummel viele Jahre. 1965 als Elegie für Streicher konzipiert, wurde es im Jahr 1978 zum Adagietto für Streichsextett umgeformt und 1993 zum ersten Mal gedruckt. 1999 bearbeitete er das Werk noch einmal und brachte es selbst mit befreundeten Musikern zur Uraufführung. Eine Partitur trägt im Titel den Zusatz "sacrale", was für den religiösen Hintergrund dieser Musik spricht.

"In einer Zeit der zunehmenden Säkularisation hat der schöpferische und auch wohl der nachschöpferische Künstler die Aufgabe, seine Mitmenschen auf das Transzendente, auf das Unerklärbare und auch Unbeweisbare hinzuweisen. Der Sprache der Musik - als der vielleicht weltumfassendsten - kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu. Die Darstellung des Leides und Grauens allein kann nicht der immanente Bestandteil eines Kunstwerkes sein. Der Hinweis auf Tröstung und Hoffnung ist unabdingbar. Darüber hinaus geben Leben, Natur und für den Glaubenden auch Gotteserkenntnis genügend Anlass zu Lob und Dank."

Mit diesen Worten formulierte mein Vater einmal sein künstlerisches Selbstverständnis. Der von ihm gerne übernommene Begriff der "musikalischen Klangrede" scheint mir im Adagietto besonders eindringlich umgesetzt zu sein.

Martin Hummel

 

In seinem Adagietto für Streichsextett ergibt sich die Vielfalt aus dem Spiel mit je zwei Geigen, Bratschen und Violoncelli.
Eine unisono von erster Geige und beiden Celli im p beginnende aufsteigende Melodie führt in 12 Takten zum ff-Akkord, um dann sogleich, einen Ton höher, neu von unten zu beginnen und seine Wirkung so zu steigern. In engen Intervallen führen die Instrumente gemeinsam das Thema fort, steigern sich zu machtvollen Akkorden oder atmen im pp aus. In weitgehend homophon geführter Bewegung der Stimmen wird Spannung im engen gegenüber von pp und ff aufgebaut. Solche Dynamik hält das ganze Stück über an und vermag uns Zuhörern den Atem zu rauben.
Der aufsteigenden Bewegung, mit der das Stück beginnt, steht ein rhythmisch lebendiges zweites Motiv gegenüber, das schon zu Beginn in der zweiten Geige als eine abfallende Linie eingebracht wurde. Im Verlauf des Adagiettos entwickelt es Selbständigkeit, bevor das Stück im ppp und still leuchtendem E-Dur zur Ruhe kommt.

Hans Jürgen Kuhlmann (im Programmheft des Ensembles "Il Cappricio" Juli 2003)

 

Presse


Das Orchester, 05/2008, Seite 58

So mancher Komponist beschäftigt sich ein ganzes Musikerleben lang immer wieder mit einem einzelnen Werk, arbeitet es um, verwirft es, konzipiert es neu oder veröffentlicht es in immer neuen Fassungen. Richard Wagners Beschäftigung mit seinem Tannhäuser ist ein solches Beispiel; die Oper wurde nach Ansicht ihres selbstkritischen Schöpfers nie fertig – und ist doch ein Meisterwerk.
Bertold Hummels Tannhäuser ist sein Adagietto für Streichsextett op. 75d. Der Komponist hat es mehrfach neu ausgelegt und – bevor die endgültige Fassung 1999 entstand – auch bereits schon einmal veröffentlicht. Für Hummel scheint dieses knappe und übersichtliche Streicherstück eine Art innerer Einkehrpunkt gewesen zu sein, ein ganz wichtiger Fixpunkt seines Schaffens. Und auch an der Uraufführung in Gütersloh drei Jahre vor seinem Tod war der Komponist als Cellist unmittelbar beteiligt.
Wie so häufig in Bertold Hummels Werken fällt der unmittelbare musikantische Gestus seiner Schreibweise auf. Schon durch die enormen Dynamikunterschiede erhält das Adagietto eine raumgreifende Lebendigkeit und eine sehr große Unmittelbarkeit in der Wirkung. Klanglich setzt der Komponist auf die ganze Bandbreite der Ausdrucksfähigkeit des eingesetzten Streicherapparats. Die sechs Stimmen sind gefordert, auf relativ engem Raum erhebliche Kontraste darzustellen und dennoch nie den Fluss und die Vorwärtsbewegung der Musik zu vernachlässigen; eine Vorwärtsbewegung, die sich nicht im bloß Motorischen erschöpft, sondern zielgerichtet einem entspannten, ausgeglichenen Ende entgegenstrebt.
Vor diesem ruhevollen Schlusspunkt jedoch entwickeln sich hochverdichtete musikalische Impressionen aus kleinsten tonlichen und motivischen Zellen. Die jeweils zwei Violinen, Bratschen und Violoncelli entwerfen dabei Strukturen, die in ihrer Entstehung und Veränderung stets gut nachvollziehbar und plastisch gegeneinander abgegrenzt sind. Gefordert werden von den Ausführenden dabei eine hohe Transparenz im Zusammenspiel, ein in allen dynamischen Abstufungen äußerst tragfähiger Ton und eine ausdrucksstarke Linienführung.
Bertold Hummels Adagietto mag in seinem jahrzentelangen Entstehungsprozess mancher Veränderung unterworfen gewesen sein. In jedem Fall aber tritt uns das finale Entwicklungsstadium als ein Konzentrat an klanglicher und struktureller Tiefenschärfe entgegen – als eine Musik, in der schlicht alles am richtigen Platz scheint.
Daniel Knödler


Winnender Zeitung, 4.05.2004

Ein Werk aus dem 20. Jahrhundert entführte in eine völlig andere Welt: "Adagietto für Streichsextett" von Bertold Hummel (1925 - 2002). Toncluster und Klangwolken, expressiv und voller Dissonanzen, von den Instrumentalisten lustvoll ausgekostet. Dann wieder Klänge gleich einem Aufschrei oder gleichförmiges Wiederholen einer Melodie, die aus einer anderen Sphäre zu kommen schien: Stimmungsbilder pur. Es dauerte Sekunden, bis sich die Spannung im Publikum durch einen ersten Beifall löste.


NMZ, April 2008, (Seite 39: Neue Partituren - durchgesehen von Reinhard Schulz)

Knappes Stück, weithin singender, erfüllter Streichersatz
Erweitert tonal, breite Linien mit choralartigem, sakralem Hintergrund
Notation normal, ca. 6 Minuten, nicht schwer
Sehr erfülltes, andächtiges Streichersextett, "großer Klang"


Erstausgabe: J. Schuberth  Co., Eisenach 1993