BERTOLD HUMMEL - Texte zu den Werken: opus 20


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Sinfonie für Streicher op. 20 (1959/1964)


I. Andante maestoso

II. Vivace

 

Uraufführung: 16. August 1959, Wuppertal / Städtisches Museum
Orchester der Arbeitswoche Moderne Musik / Bertold Hummel


Aufführungsdauer: 18 Minuten

Autograph:
Titel: Sinfonie für Streicher 1959
Umfang: 43 Seiten mit zahlreichen handschriftlichen Korrekturen
Datierung: Reduzierte Fassung 10. Sept. 64 / Endfassung 1971 (Mai) nach Auff. in Caen
Aufbewahrungsort: Bayerische Staatsbibliothek, München

Verlag: N. Simrock Hamburg-London (Boosey & Hawkes)
Studienpartitur
Stimmen (Leihmaterial)



I.
II.


In meiner zweisätzigen Streichersinfonie verzichte ich keineswegs auf eine bewährte sinfonische Gestik. Es wird allerdings keine polare Thematik aufgestellt, sondern das aus einer sechstönigen Zelle gewonnene motivische Material ist stetig rhythmischer sowie figürlicher Modifikation unterworfen. Dem expressiven, in ausgeschriebener Rubatomanier angelegten Andante maestoso, das auf seinem Höhepunkt durch eine breit angelegte Kadenz des Solo-Violoncellos aufgefangen wird - kontrapunktiert durch das mit Dämpfern spielende Tutti -, steht der aus motorischen Energien erregte Vivace-Satz entgegen. Dabei erhalten die im ersten Satz entwickelten Tonfolgen eine völlig anders geartete neue Beleuchtung. Ein marschartiger Einschub - in vielfältiger Kanontechnik ausgeführt - mündet in einen wirbelnden Schlußteil, der die verschiedenen Elemente der Sinfonie noch einmal zusammenfasst.

Bertold Hummel


Konzerteinführung zur 1. Sinfonie op. 20

Zunächst möchte ich meiner Freude darüber Ausdruck geben, dass - so viel ich weiß erstmals - hier in Trier eines meiner orchestralen Werke zur Aufführung gelangt.
Die Situation in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg war für junge Komponisten (damals zählte ich noch zu diesen) recht verwirrend. Die im „3. Reich“ unterdrückten Creationen des 20. Jahrhunderts waren nun wieder zugänglich. Die Werke von Bartok, Hindemith, Strawinsky eroberten die Konzertsäle. Etwas später bahnt sich ein nachhaltiges „come back“ der sogenannten 2. Wiener Schule an: Schönberg, Webern und Alban Berg.
So gab es in diesen Jahren eine Anzahl von jungen Komponisten, die in ihrem Schaffen mehr durch die Werke der erstgenannten beeinflusst wurden und eine Gruppe, die mehr die Nachfolge der Wiener Schule antrat.
Um es vorweg zu nehmen: Ich gehörte zur Gruppe derer, die sich durch Hindemith, Bartok und Strawinsky etc. anregen ließ. Die heute Abend auf dem Programm stehende 1. Sinfonie für Streicher dokumentiert dies sicherlich.
Trotzdem bleibt – so meine ich – genügend Eigenes übrig, das auf mein späteres Schaffen hinweist. Die 2-sätzige Form, die ich im Übrigen später in meinen Visionen op. 73 wieder aufgegriffen habe (aber auch in Kammermusikwerken) soll es dem Hörer ermöglichen, die stark kontrastierenden Episoden des Werkes nachzuvollziehen. Ich hoffe nun auf eine erfreuliche Wiederbegegnung mit meiner 1.

Bertold Hummel (Trier 13. 11. 1986)


Im April 1960 erhielt Bertold Hummel für seine Streichersinfonie den Förderungspreis der Stadt Stuttgart für junge Komponisten ernster Musik. Am 30 März 1962 fand dann die offizielle Uraufführung des Werkes in Stuttgart statt:

 

Gedanken zur Aufführung von B. Hummels "Sinfonie für Streicher" am 13.11.1986 in Trier

Bertold Hummels Streichersinfonie ist 1959 entstanden, der Komponist war mithin in seinem vierunddreißigsten Lebensjahr. Verfolgt man die Entwicklung seines kompositorischen Schaffens aufmerksam, so wird man feststellen, daß diese sehr langsam, aber stetig vorangeschritten ist. Das heißt nicht, daß er wenig geschrieben hat: Hummel hat es in diesem Punkt stets mit Max Reger gehalten, von dem das Wort stammt, ein Künstler solle sich "frei schreiben".

Über viele Werke hinweg - Hummels Oeuvre umfasst alle Sparten der Musik - entwickelt sich sein Stil, welcher spätestens ab den siebziger Jahren zu einer unverwechselbaren Handschrift geronnen ist. Ich sage das ausdrücklich: kein deutscher Komponist seiner Generation, auch Henze nicht, hat einen Stil entwickelt, der ein Werk sofort nach den ersten Takten als typisch ausweisen würde. Ähnliches ließe sich in der Neuen Musik nur über den alten Messiaen sagen. Hummels Schlüsselwerke in diesem Zusammenhang wären etwa die 2. Sinfonie (1966), das Ballett "Die letzte Blume" (1975), sodann die Meisterwerke aus neuerer Zeit: "Visionen" für Orchester und das Konzert für Schlagzeug und Orchester.

Ein wichtiges Werk aus der früheren Phase ist nun die Streichersinfonie, die Sie heute hören. Viele Keimzellen des reifen Stils finden sich in diesem Stück, wenn auch da und dort noch Vorbilder grüßen lassen, Bartok etwa, bei den virtuosen Drehfiguren im zweiten Satz, oder auch Genzmer, bei dem Hummel studiert hat. Als Ausgleich dafür bietet dieses Stück eine bemerkenswerte - beinahe noch jugendliche - Frische. Eine Tugend, die man bei anderen deutschen Autoren in den 50er und 60er Jahren selten antrifft.

Hervorzuheben an dem Stück wäre zuerst einmal die Zweisätzigkeit: dem Espressivo und der kraftvollen Geste folgt Ludus, das Spiel. Ein großer Augenblick etwa, wenn das Geschehen im ersten Satz abreißt und der Ton E in den Bässen liegenbleibt darüber ein langes Cello solo, dem die sordinierten Geigen und Bratschen antworten, sich mit dem Cello zusammentun, auf einen Höhepunkt zustreben, abreißen; das Violoncello (Hummel ist Cellist!) fantasiert nochmals vier Takte allein, um dann mit dem tiefen E zusammen zu verlöschen. Eine relativ kurze Coda schließt den Satz in besinnlicher Geste ab.

Der zweite Satz mit dem Zentralton A steht zum ersten im reinen Quintverhältnis (E–A). Sehr musikantisch, von dramatischen Blöcken durchsetzt, läßt dieser Satz dem Spieltrieb freien Lauf und verleiht der gesamten Sinfonie eine klassizistische Haltung.

Konstanten von Hummels Tonsprache, wie sie sich in diesem Werk bereits abzeichnen: eine sehr beredsame Gestik (Deklamatorik), ein Sinn für‘s Dramatische, was häugfig die Formgebung betrifft, eine Harmonik, die sich aus der Schichtung kleiner Bausteine ergibt, folglich häufig mit realer Mixtur arbeitet, eine Melodik, welche vorzugsweise zwölftönige Felder aufarbeitet, im rhythmischen Bereich schließlich eine Vorliebe für Ostinati.

Claus Kühnl

 

Presse

Frankenpost Hof 3.2.1975

Das substanziell dichte Werk, das bei aller vitalen Expressivität einen hohen Grad an Vergeistigung aufweist und sich durch esoterische Ernsthaftigkeit - fernab von allem spielerischen - auszeichnet, schien dem Orchester in seiner ganzen Faktur zu liegen. der Wechsel von herber Klangsinnlichkeit, sehniger Glut und Gespanntheit der Linien (man wurde dann und wann an Samuel Barber erinnert) mit gläserner Zerbrechlichkeit beim Andante maestoso wurde nicht ohne Noblesse nachvollzogen. ein Gleiches gilt für die Nachzeichnung der herben Bizzarerien des Vivace. Das war alles gut erarbeitet, hatte Profil und nahm den aufmerksamen Zuhörer gefangen.

 

Fränkisches Volksblatt 9. April 1965

Ein interessantes Werk schon von der Exposition her, dem Anlegen und Anreichem des Fundus. Bis zuletzt respektiert es die Logik, aber es ist eine Logik der Überraschungen, die motivischen Veränderungen erwecken nicht den Eindruck des Zwanges und sind doch zwingend, sie kommen unversehens und sind immer einsichtig. So nimmt das Andante maestoso nicht die Gebärde der Feierlichkeit an, seine herbe Gemessenheit ist voller Schattierungen. Das Vivace dann ist geradezu ein Musterbeispiel dafür, wie man Stilreinheit pflegen und doch elementare Wirkungen hervorrufen kann, wenn der Sinn für die evolutionäre Möglichkeit des Materials, für das Potentielle daran geschärft ist.
Erich Riede gab mit dem Städtischen Philharmonischen Orchester eine genaue Deutung, er nahm das Andante nicht zu breit und spürte beim Zweiten Satz eine fesselnde Unruhe heraus, die sich nicht allein aus dem Zeitmaß erklärt. Den Solocellopart des Andante, eine Kadenz von männlicher Kraft, spielte Edmund Link makellos schön.

Otto Schmitt