Lotte Kliebert (15. Oktober 1987 Würzburg - 27. November 1991 Würzburg) Zurück zur Verzeichnisliste |
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Neugier auf noch Unbekanntes Zu
den besonderen Akzenten im langen Musikerleben Lotte Klieberts zählt unbestreitbar
ihr Interesse am zeitgenössischen musikalischen Schaffen. Dieses Interesse
ist wohl einer der Gründe ihrer Jugendlichkeit bis ins hohe Alter. Sicherlich
wurde die Neugier auf noch Unbekanntes durch ihren Vater, den Hofrat Karl Kliebert
geweckt, der mit den schöpferischen Musikern seiner Zeit wie Richard Wagner,
Franz Liszt, Peter Cornelius, Friedrich Smetana, Richard Strauss, Joseph Rheinberger
und Hans von Bülow eng verbunden war. Selbst kompositorisch tätig, hielt
er es für selbstverständlich, daß an der von ihm geleiteten königlichen
Musikschule die damalige "neue Musik" nachdrücklich gefördert
wurde. Bertold Hummel (in: "Das Wahre suchen, das Schöne lieben, das Gute tun! - Lotte Kliebert zum 100. Geburtstag - 15. Oktober 1987", hrsg. vom Tonkünstlerverband Würzburg e.V. 1987) Bertold Hummel widmete Lotte Kliebert das Andantino für Harfe op. 77e. Lotte Kliebert und Bertold Hummel, Würzburg 1975
Das
Wahre, das Gute, das Schöne (...)
Am 15. Oktober 1887 wird dem Direktor der "Königlichen Musikschule"
zu Würzburg in seiner Wohnung in der Franziskanergasse als zweites Kind eine
Tochter geboren und auf den Namen Lotte Louise (Rufname: Lotte) getauft. Zu ihrem
hochbegabten Bruder Hans (geb. 1882) hat sie ein sehr inniges Verhältnis.
Er wird Stipendiat des Maximilianeums in München, studiert Jura und tritt
ein in die höhere Laufbahn im Staatsdienst. Als er 1917 vor Ypern fällt,
entsteht eine Lebenswunde, die nie ganz vernarbt ist. Lotte Klieberts Schwester
Käthe (geb. 1889) wird Harfenistin und lebt bis 1963. "Man
kann mit der Wahl seiner Eltern nicht vorsichtig genug sein", diesen ebenso
schalkhaften wie lebensnahen Ausspruch ihrer Mutter hat Lotte Kliebert offenbar
sehr, sehr ernst genommen: Väterlicherseits stammt sie - es waren die Ur-Ur-Großeltern
- aus Sommerach am Main. Sie wandern aus nach Flöhau bei Saaz im Sudetenland.
Deren Enkel Johann wirkt als hochangesehener Notar in Prag; für seine Verdienste
um die Einigung von Tschechen und Deutschen erhält er das Ehrenbürgerrecht
der Stadt Prag. Bei ihm und seinen Schwestern wächst sein Enkel, der bereits
im Kindesalter zum Doppelwaisen gewordene Karl Kliebert, im Haus "Zu den
zwei goldenen Bären" heran. Wie der Großvater studiert er, vielseitig
begabt, Jura in Wien und promoviert dort; gleichzeitig studiert er Musik (u.a.
bei Hanslick und Bruckner) und später in München, wo vor allem Hans
v. Bülow (Dirigieren) und Josef Rheinberger (Komposition, Klavier) ihn fördern.
Auf die Initiative Hans v. Bülows wird er 1875 zum Direktor der "Königlichen
Musikschule" in Würzburg berufen. Als Reorganisator des Instituts, das
er u.a. zu einer vorbildlichen Orchesterschule ausbaut, als Komponist, als Dirigent
und als Förderer der zeitgenössischen Musik erwirbt er sich außerordentliches
Ansehen. Zu seinen Freunden zählen so bedeutende Musiker wie Friedrich Smetana
und Hans v. Bülow, zu seinen Bewunderern Richard Strauss, Eugen d'Albert
und Richard Wagner ("die beste Musikschule Deutschlands"). Mit 58 Jahren
stirbt er an Apoplexie, wohl eine Folge seines rastlosen Einsatzes und ständiger
Überarbeitung. Lotte
Klieberts Mutter entstammt einer Pastoren- und Gelehrtenfamilie aus der Universitätsstadt
Greifswald, der "Perle Pommerns". Der Großvater, Prof. Karl Ludwig
von Urlichs, Ordinarius für klassische Philologie und Archäologie, hat
sich u.a. dadurch verdient gemacht, daß er die sogen. FEOLI-Sammlung (480
griechische Vasen) nach Würzburg brachte (Martin-von-Wagner-Museum). Bei
den Großeltern, die in der Sanderstraße ein hochherrschaftliches Haus
führen, finden die Kinder zusätzliche günstige Voraussetzungen
für ihr Gedeihen: Aufgeschlossenheit und familiäre Wärme, eine
reichhaltige Bibliothek mit vielen Erstausgaben deutscher Klassiker, eine Vielzahl
wertvoller Erbstücke, darunter eine Reihe von Bildern des damals noch verkannten
C. D. Friedrich; sie werden angeregt zur Lektüre der großen Literatur,
vor allem durch die Großmutter, ebenso zum Zeichnen nach Vorlagen und nach
der Natur und zum Erkennen des Schönen, so an den alten Häuserfassaden
der vielen Petrini- und Neumann-Bauten in der Neubau-und Sanderstraße. Hier
wird der Grund gelegt für Lotte Klieberts umfassende Bildung. Mit sechs Jahren
erhält Lotte Kliebert den ersten Klavierunterricht, erfährt in der Evangelischen
Volksschule in der Münzgasse (1894-1901) durch die Lehrer Kuch und Fuß,
Schüler ihres Vaters, viel Verständnis und Förderung, während
ein dritter, der ihr Augenleiden nicht erkennt, sie für unbegabt hält.
Mit 13 Jahren tritt sie in die Königliche Musikschule ein und studiert bei
dem hervorragenden Organisten und Pianisten Leo Gloetzner, einem Rheinberger-Schüler,
das Fach Klavier. Wie
die Jahresberichte ausweisen, spielt sie in den "Schülerproduktionen"
genannten, recht anspruchsvollen Konzerten, am 3. November 1907 Robert Schumanns
Fantasiestücke op. 12, am 18. Juni 1909 Schumanns Klavierkonzert op. 54 und
am 1. Juni 1910 das Klavierkonzert fis-moll von H. Bronsart (1830-1913), einem
feinsinnigen Pianisten aus dem Kreis um Franz Liszt, Hans v. Bülow und dem
Coburger Felix Draeseke. Das weitgespannte Bildungsinteresse Lotte Klieberts belegen
die Jahresberichte für die Jahre 1907-1909. Neben den Pflichtfächern
hat sie die Fächer Italienisch und Kunstgeschichte belegt. 1908, ein Jahr
nach dem Tode des verehrten, liebevollen Vaters, besteht sie das Privatmusiklehrerinnen-Examen
mit der Note 1. Sie studiert weiterhin das Fach Klavier, verzichtet aber auf den
Abschluß "Künstlerische Reife", da sie die Musikerzieher-Tätigkeit
ganz und gar in ihren Bann zieht. 1935 wird
der "Reichsverband deutscher Musiklehrer und Tonkünstler" insgesamt
aufgelöst. Nach strenger Überprüfung der Qualifikation werden die
Mitglieder automatisch in die Ortsgruppe der "Reichsmusikkammer" übernommen.
Lotte Kliebert arbeitet, unbehelligt von Partei-Ideologien und Schlimmerem, an
der Weiterbildung und Schulung der Mitglieder, besonders auf den vierzehntägigen
Schulungswochen mit erstklassigen Dozenten wie Dr. Wilhelm Twittenhoff, Prof.
Fritz Jöde, Prof. Felix Oberborbeck und Dr. Herbert Just. Ständige Dozentin
ist auch Lotte Kliebert. Absicht dieser Lehrgänge ist die theoretische wie
praktische Vervollkommnung und, ebenso wichtig, die Öffnung hin zu den neuen
Entwicklungen, wie sie sich in der Jugendmusik, der Singbewegung, der Hinwendung
zur Alten Musik und ihren Instrumenten (wie Blockflöte, Laute, Gambe, Fidel,
Cembalo) und zum Volkslied als einer Grundlage vokalen und instrumentalen Lernens
und Musizierens überhaupt darstellen. Weitere Arbeitsgebiete dieser Schulungswochen
sind: die Pflege alter und neuer Chormusik, die Erschließung und die klangliche
Realisation Neuer Musik, die Einführung in die Rhythmische Gymnastik und
eine besonders eingehende Pflege alter und neuer Kammermusik. Der Gründung
einer ideologisch geführten städtischen Jugendmusikschule (Motto: "Jugend
führt Jugend") kommt sie durch Gründung einer fachlich geführten
Jugendmusikschule 1942 zuvor, um - so ihre Formulierung - "den Kolleginnen
und Kollegen ihr Brot zu erhalten". Mit
der Bombennacht des 16. März 1945 bricht auf die "sonntägliche
Stadt" Würzburg die fürchterlichste Katastrophe ihrer Geschicht
herein. Die folgenden Nachkriegsjahre bilden eine Periode unbeschreiblicher Not
und unfaßbaren Elends. Auch Lotte Kliebert besitzt nichts mehr. Alles, was
sie einmal aufgebaut, wofür sie gelebt hat, existiert nicht mehr. Mit der
allmählichen Besserung der Verhältnisse in den fünfziger Jahren
und unterstützt von einem "treuen Kreise Unentwegter", beginnt
sie ihren Wiederaufbau: Am 30. Oktober 1955 wird auf Initiative Lotte Klieberts
die Ortsgruppe Würzburg im Bayerischen Tonkünstler-Verband gegründet.
Sie selbst wird zunächst 2. Vorsitzende, 15 Monate später die 1.Vorsitzende.
Noch im Jahr 1956 wird die Reihe der Schülermusizierstunden wiederaufgenommen
und - "eine kulturelle Tat" für unsere Stadt - mit den "Abonnementskonzerten
des Tonkünstler-Verbandes" die erste Konzertreihe von überregionaler
Bedeutung im Würzburg der Nachkriegszeit eingerichtet. Als zweite "Großtat"
erfolgt die Gründung des "Studio für Neue Musik", einer so
lebendigen und qualitätvollen Institution, daß sie mancher weit größeren
Stadt zur Ehre gereichte. Die stolze Reihe von 155 Veranstaltungen, künstlerisch
geleitet von den Professoren B. Hummel und Dr. Kl. H. Stahmer von der Hochschule
für Musik und im übrigen betreut durch den Tonkünstler-Verband,
spricht eine beredte Sprache. In unentwegter Treue erfüllt Lotte Kliebert
die vielen internen Verbandsaufgaben von der Beratung der Mitglieder, der Empfehlung
junger Musikpädagogen, der Unterstützung in Not geratener Kollegen bis
zu den täglichen Arbeiten, die wir etwas salopp den "Papierkrieg"
nennen. Trotz ihres von Geburt an bestehenden Augenleidens schreibt sie Briefe
und Veröffentlichungen in einem von großer Sensibilität und Noblesse
geprägten Sprachstil, der das Wesen ihrer Persönlichkeit widerspiegelt:
eminente Bildung, persönlicher Charme, Pflichttreue und ein Tag für
Tag gelebtes Eintreten für jene Werte, die nach einem Wort Platons des Menschen
Ziele sind: das Wahre, das Gute, das Schöne. Mit
97 Jahren legt Lotte Kliebert die Leitung des Tonkünstler-Verbandes Würzburg
nieder. Sie bleibt unermüdlich tätig, wie es ihrer Art eignet: schreibend,
beratend, am Konzertleben und am geistig-kulturellen Leben in unserer Stadt teilnehmend,
anregend, vermittelnd, helfend, wo immer es möglich ist: Das Beispiel eines
rundum gelungenen 100jährigen Daseins für andere, und gleichzeitig offen
für die schönen Seiten des Lebens: sei es bei Konzerten, bei Festen
und Feiern oder im Freundeskreis, am liebsten bei einem Glas erlesenen Frankenweins. Liebe Frau
Kliebert, Stephan
Werner (in: "Das
Wahre suchen, das Schöne lieben, das Gute tun! - Lotte Kliebert zum 100.
Geburtstag - 15. Oktober 1987", hrsg. vom Tonkünstlerverband Würzburg
e.V. 1987) |